Die Gesundheit der Nationen

Spektrum der Wissenschaft, Nov. 19 92
Buchbesprechungen

Leonard A. Sagan: Die Gesundheit der Nationen. – Die eigentlichen Ursachen von Gesundheit und Krankheit im Weltvergleich.
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Rowohlt, Reinbek 1992. 352 Seiten, DM 39,80.

Warum leben einzelne Menschen länger als andere? Warum sind einige dauernd krank, andere dagegen fast nie? Warum sind Gesundheit und Krankheit in einzelnen Bevölkerungsgruppen und Nationen so unterschiedlich verteilt?

Diese Fragen können nicht nur jeden einzelnen existentiell betreffen; es geht auch um Milliardenbeträge, die so oder so ausgegeben werden können und damit Gegenstand des Verteilungskampfes unter gesellschaftlichen Gruppen sind. Rationale und überzeugende Antworten wären da äußerst hilfreich.

Leonard A. Sagan, ein international renommierter medizinischer Epidemiologe an der Universität von Palo Alto in Kalifornien, wählt – naheliegenderweise – den epidemiologischen Ansatz, um sich einer Antwort zu nähern. Herausgekommen ist dabei ein Buch mit einem globalen medizinischen Wahrheitsanspruch, das gleichermaßen erkenntnisreich wie provokativ ist.

Zunächst stellt Sagan sein begriffliches Handwerkszeug vor: Definitionen von Gesundheit und Krankheit sowie die Festlegung von Parametern, die diese Merkmale in Bevölkerungsgruppen statistisch erfaßbar machen, und weist auf das wohl entscheidendste Problem bei der Interpretation medizinischer Daten hin: die Multikausalität.

Komplexe biologische Phänomene wie Gesundheit und Krankheit sind stets durch ein ganzes Ursachengeflecht bedingt. Einzelne biologische, ökonomische oder soziale Faktoren sind möglicherweise jeder für sich genommen zwar notwendige, für das Fortbestehen von Gesundheit oder die Entwicklung von Krankheit aber keineswegs alleine ausreichende Ursachen. Erst in ihrem Zusammenwirken über einen längeren Zeitraum werden sie zur eigentlichen causa. Wie schwierig es ist, solche Kausalzusammenhänge zu entwirren, zeigt sich am simplen Beispiel des Tabakkonsums. Während Ärzte die Meinung vertreten, das Rauchen sei ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Lungenkrebs, können Tabakkonzerne weiterhin im Brustton der Überzeugung behaupten, daß Menschen mit einer Prädisposition für Lungenkrebs zufällig eine größere Neigung zum Zigarettenrauchen zeigten.

So gerüstet, fällt es dem Leser leicht, Sagan auf seiner Fährtensuche kritisch zu begleiten. Wie systematisch der Autor dabei vorgeht, beeindruckt in jedem der acht Hauptkapitel von neuem. Nehmen wir als Beispiel die Analyse jener Institution, der wir nach allgemeiner Auffassung die Verbesserung der Gesundheit in den letzten 100 Jahren verdanken: unseres medizinischen Versorgungssystems.

Sagan weist akribisch nach, daß die allgemeine Annahme "Qualität hat ihren Preis" gerade für die Medizin irrig ist. Die USA haben die zweithöchsten Pro-Kopf-Ausgaben der Welt für die medizinische Versorgung, finden sich jedoch mit ihrer Lebenserwartung nur an 19. Stelle der Weltrangliste. Umgekehrt sind die Japaner – bei einem Bruchteil des Kostenaufwands – in ihrer Lebenserwartung allen anderen Nationen weit voraus.

Während sich in den USA der Anteil des Bruttosozialprodukts, der für medizinische Versorgung aufgewendet wird, zwischen 1955 und 1985 von 4,4 auf 11 Prozent fast verdreifachte (in absoluten Zahlen sogar verdreißigfachte), ging die Gesamtsterblichkeit nur von 7,5 auf 5,0 pro 1000 Einwohner und Jahr zurück. Vom Beginn bis zur Mitte des Jahrhunderts dagegen hatte sie um nahezu 65 Prozent abgenommen, obgleich – das ist entscheidend – die Ausgaben für Gesundheitsversorgung vergleichsweise gering und ihr Anteil am Bruttosozialprodukt nahezu konstant gewesen waren.

Daß hier offensichtlich kein Zusammenhang zwischen Aufwand und Erfolg besteht, ist frappierend, aber nicht unerklärlich. Ist doch die Wirksamkeit der meisten Therapien – ganz im Gegensatz zu dem, was Laien glauben – nie einer strengen wissenschaftlichen Prüfung unterzogen worden. Und wo doch, zeigte sich, daß medizinische Lehrmeinungen häufig eher Dogmen als naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten sind.

Selbst so offensichtliche Erfolge moderner Medizin wie in der operativen Geburtshilfe und der Kinderheilkunde entpuppen sich immer mehr als Chimären. Gibt es angesichts der extrem niedrigen Müttersterblichkeitsrate in den USA wie bei uns irgendeine Rechtfertigung für die Zunahme der Kaiserschnitte auf das Vierfache in den letzten zehn Jahren? Wie soll man wissenschaftlich erklären, daß bei Patientinnen auf Privatstationen die Zahl der operativen Entbindungen signifikant höher ist als bei anderen, die Säuglingssterblichkeit in beiden Gruppen jedoch gleich hoch? Wie reimt es sich zusammen, daß die Niederlande weltweit die geringste Mütter- und Säuglingssterblichkeit aufweisen, gleichzeitig aber die geringste Rate von Kaiserschnitten? Schließlich, was soll man davon halten, daß Ärztedichte und Säuglingssterblichkeit in den 18 wichtigsten Industrienationen – statistisch hochsignifikant – in einer inversen Beziehung stehen?

Auch die anderen vermeintlichen Fundamente von Gesundheit wie ausgewogene Ernährung, körperliche Fitneß sowie Vermeidung von Stress und schädlichen Umwelteinflüssen erscheinen unter dem epidemiologischen Seziermesser mehr als Epiphänomene, die "gemeinsam mit Gesundheit auftreten, diese aber nicht kausal bedingen". Es sind dagegen zahlreiche persönliche, familiäre und gesellschaftliche Faktoren, welche die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren so dramatisch haben ansteigen lassen. Eigenverantwortung, Selbstachtung, höheres Bildungsniveau, partnerschaftliche Familienstrukturen, bessere soziale Netze und nicht zuletzt der Rückgang von Armut seien die wesentlichen Ursachen:

"Der eigentliche Lieferant von Gesundheit ist das Gehirn."

Man mag diesen Gedanken zustimmen oder nicht; die Daten sprechen jedenfalls für sich. Kritik mag auch an dem Ansatz angebracht sein, Gesundheit um der statistischen Erfaßbarkeit willen auf Lebenserwartung zu reduzieren und qualitative Aspekte von Gesundheit und Krankheit unberücksichtigt zu lassen. Sicherlich ist auch die Auswahl der zitierten Studien nicht unbeeinflußt vom Denkansatz des Autors geblieben. Gleichwohl ist das Buch ein solides Stück wissenschaftlicher Handwerksarbeit mit präzisen Quellenangaben, überprüfbarem Zahlenmaterial und anschaulichen Graphiken. Und gerade weil so provokativ, wird es jeden zum Nachdenken anregen – ganz besonders hoffentlich aber diejenigen, die über Finanzierung und Zukunft unseres Gesundheitssystems zu entscheiden haben.

Priv.-Doz. Dr. med. Hermann Feldmeier
Landesinstitut für Tropenmedizin,
Berlin.